Was ist eine taktische Nuklearwaffe? {Dinge, die man besser wissen sollte}

Mein Leben verlief bisher friedlich. Ich durfte in einem Land aufwachsen und leben, in dem Friede herrscht. Insofern bin ich, was logisch erscheint, weder gut informiert über Kriegstaktiken noch über Waffen und alle dem, was so dazugehört. Es war einfach nie notwendig sich damit zu beschäftigen. Mittlerweile hat sich das insofern geändert, als mit meinem Seelenfrieden gespielt wird. Aus taktischen Gründen wohl. Und es scheint angemessen sich zumindest in den Eckpunkten ein wenig fit zu machen.

Ich habe viel darüber gelesen und in letzter Zeit häufig darüber nachgedacht ob und worüber ich euch was erzählen könnte/sollte. Und dann habe ich es nicht getan. Aber dieses mal scheint es mir zu wichtig. Dieses mal denke ich, kann ich euch etwas mitgeben, das ihr vermutlich so noch nicht wusstet bzw. nicht genug wusstet. Es geht ganz allgemein um die Atomare Bedrohung und im speziellen um die immer wieder geäußerten Drohungen von Valdimir Putin Atomwaffen einzusetzen, so er es denn für notwendig erachtet.

Das macht schon mal unrund und nerövs. Speziell eben, weil es doch so lange so angenehm ruhig war und ich es einfach nicht mehr gewohnt bin, mich mit einem derart irren Szenario auseinanderzusetzen. Und dann habe ich neben all den Artikeln diesen Podcast der NYTimes gehört, der ziemlich gut und auch verständlich, so meine ich, auf das Thema eingeht und in dem viel zusammengefasst wird, was ich über die letzten Monate alles gelesen habe. Und deswegen klettere ich ihn diesen Podcast und gebe euch die wesentliche Inhalte hier nochmal wieder. Damit ihr einen Überblick habt, damit ihr wisst, wovon da geredet wird, womit da gedroht wird. Damit ihr euch ein Bild machen könnt. Kein Schönes zwar, aber eben ein Bild, das vermutlich mehr der möglichen Realität ähnelt, als die Angstbilder, die das Gedrohe eben in einem auslöst. Schnallt euch an, es geht los.

So sich Vlad dazu entscheiden sollte eine Nuklearwaffe im Ukrainekrieg einzusetzen, dann würde er höchstwahrscheinlich eine ganz spezifische Sorte von Atombomben wählen. Was ist das für eine Bombe, wie funktioniert sie und was bedeuten es, sollte man sie einsetzen?

Vladimir Putin hat per Fake-Referendum einen Teil der Ukraine zu russischem Gebiet erklärt und dabei gleich mitgeteilt, dass er dieses Territorium mit allen Mitteln verteidigen wird. Und da die Ukraine in genau diesen Gebieten beinahe täglich weitere rückeroberte Städte meldet, fragt sich natürlich die ganze Welt: Was wird denn jetzt passieren! Putin hat ja mehr oder weniger unverhohlen mit der Atombombe gedroht. Stehen wir kurz vor einem atomaren Krieg? Und wie schaut der denn dann aus? Viele Fragen. Ein paar davon kann man beantworten.

Atombombentest auf dem Eniwetok-Atoll, 1952

Wie würde denn heute, 2022, ein Angriff mit so einer Waffe aussehen?

Ganz allgemein gilt ja, dass wenn wir an eine Atombombe denken, dann sehen wir einen Atompilz. Wir denken an Hiroshima. Wir denken an das Ende der Welt.
Sieht so der Kampf mit diesen Waffen aus?

Nein.
Genau da liegt der Hund begraben. Wir sehen vor unserem geistigen Auge die Hiroshima Bombe oder Bilder von den Tests auf Atollen im Ozean. Bilder, die einen bis ins Mark erschüttern. Die Angst vor den undenkbaren Szenarien, die diese Bilder auslösen, kennen wir alle.

Wovon wir hier aber reden, ist eine komplett andere Sache. Ein weiteres dunkles Kapitel in der Welt der Waffen, speziell der Atomwaffen. Ein Kapitel, das parallel zu dem, das wir kennen, geschrieben wurde.

Die Frage lautet: Worin unterscheidet sich dieses Waffen-Universum nun aber von dem in unseren Köpfen?

Nun, zu allererst einmal; die Atombomben, von denen wir hier reden sind viel, viel, viel, viel kleiner und werden taktische Atombomben genannt. Es handelt sich um Bomben von einem Bruchteil der Kraft der Hiroshima Bombe bzw. einem winzig winzig kleinen Bruchteil jener Bomben, die im kalten Krieg als City-Bombs oder Super-Bomben entwickelt und bezeichnet wurden.
Also im Vergleich zu dem, was wir kennen, sind diese Bomben … Mini.

Blickt man zurück dann lief es etwa so ab. (Kurzfassung): Auf Hiroshima folgte das Kriegsende und der kalte Krieg und mit ihm der Wettlauf um die größte, zerstörerischste Bombe denkbar. Es wurden Bomben gebaut, die hundertmal, sogar tausendemale so groß und furchtbar waren wie Hiroshima. Die Wasserstoffbomben. Die USA und die Sowjetunion spielten ein gefährliches Spiel von Einschüchterung und Angst. Aus dieser Zeit stammen die Bilder in unserem Kopf. So wurden wir geprägt zum Thema Atombombe. Der grauslichste Rüstungswettkampf, den man sich nur denken kann. Der Wettkampf, in dem keiner gewinnen konnte. Das war damals beiden Seiten klar. „Wenn wir X machen, machen sie Y und wir sind alle ausgelöscht.“ Es war ein Stand-off, eine Sackgasse.

Das waren die Bomben von damals. Sie erhielten die ganze Aufmerksamkeit. In ihrem Schatten entstanden aber noch weitere .. viel kleinere Bomben. So groß wie ein Toaster. „Davy Crockett“, zum Beispiel, war eine wassermelonengroße Bombe, die im kalten Krieg in großer Zahl in Deutschland stationiert wurde um einen Angriff von russischen Truppen zurückzuhalten.
Die Explosion so einer Bombe betrug ungefähr ein Tausendstel der Hiroshima Bombe. Sie war einfach zu transportieren, dabei aber stark genug um eine Brücke, einen Damm oder ähnliches von der Landkarte zu bomben. Ihre Aufgabe war eine taktische im Feld. Keine City-Zerstörer. Diese Bomben dazu gedacht auf dem Schlachtfeld eingesetzt zu werden. Reichweite der „Davy Crockett“ waren 2 – 4 Kilometer.
Die NATO platzierte damals 7.400 solcher Bomben in West-Europa. Sie waren überall. Die Sowjets haben etwas länger gebraucht um so „kleine“ Bomben zu bauen. Aber sie haben es geschafft und über kurz oder lang befand man sich in einem Mini-Bomben-Wettkampf. Diesmal mit deutlich weniger Aufmerksamkeit von der Bevölkerung. Und als die Sowjet-Union zusammenbrach, baute vor allem der Westen diese kleinen Bomben ab. Sie waren zu klein, konnten leicht „verlorengehen“ und in die Hände der Falschen – speziell Terroristen – geraten. Also wurden diese Bomben zerlegt und verstaut. An sichere Orte gebracht. Am Ende der ganzen Misere waren in Europa nur mehr 100 solcher Bomben zu finden. Da es für diese „kleinen“ Bomben nicht das Hochsicherheits-Auslös-Szenario gibt wie für die großen Bomben, schien es der NATO einfach zu gefährlich sie in dieser Stückzahl in viel zu vielen Händen zu wissen.

Die Russen haben dazu ihre Bomben mehr oder weniger einfach nur irgendwo gelagert. Nicht zerlegt, nur weg von der Grenze und in Sicherheit gebracht. Sie liegen einsatzbereit in Bunkern. Wir reden hier von etwa 2.000 Stück (Quelle: NYTimes). Anzumerken ist noch, dass diese Bomben nie Teil eines Rüstungsabbaus waren. Sie erhielten einfach nie die Aufmerksamkeit.

In den letzten Jahren ist Russland nun als Aggressor auf der Weltbühne erschienen. Es bedroht die Ukraine seit Jahren und weist dabei gerne auf sein enormes Reservoir von nuklearen Waffen hin.

Sollte sich Putin dazu entscheiden eine dieser Bomben zu benutzen: Wie würde das dann aussehen?

Nun, die Experten meinen, dass Putin wohl auf eine Art „Shock and Awe“ – Taktik setzen wird. Was soviel bedeutet, dass der Gegner vor lauter Schreck mehr oder weniger gar nix macht. Er sagt sich: „Lasst uns so ein Ding nehmen. Die sind nicht so groß, die Welt wird nicht untergehen. Ich nehme diese und lass sie hopps gehen über dem Baltikum oder dem Schwarzen Meer. Kein Atompilz, nur für einen Moment dieser irre Lichtblitz einer zweiten Sonne. Die Sateliten würden es sehen, der Westen würde es sehen, die NATO, die USA. Sie alle würden die Botschaft verstehen, dass ich bereit bin das nukleare Tabu, das seit 77 Jahren gilt, zu brechen.“
Oder er würde, wenn das Ziel eine ukrainische Militärbasis wäre, eine Iskander Rakete mit so einer kleinen Bombe nuklear bestücken. Er könnte diese Rakete dann in Russland aufstellen und sie in Richtung Ukraine abschießen. Dabei gibt es dann noch reichlich Auswahlmöglichkeiten wie die Bombe einschlagen soll. Ob die Explosion noch in der Luft passiert oder eben erst am Boden. Das macht einen großen Unterschied und richtet unterschiedlichen Schaden an.

So Eine Atombombe, die etwa 330 Meter über dem Erdboden explodiert, verstrahlt zum Beispiel die Umgebung nicht für die nächsten zig hundert Jahre. Deswegen ist es ja heute möglich in Hiroshima zu leben.
Der Alptraum ist die Explosion am Boden. Sie verstrahlt alles, was es da gibt und die Wolke an verseuchtem Material, die wandert dann, je nach Wetterlage, irgendwohin. Durchaus auch nach Russland.
Mit diesen unterschiedlichen Szenarien lässt sich dann halt auch taktisch hantieren. Je nachdem ob du jemandem mal einen soliden Schrecken einjagen willst, oder eben Zerstörung auf Langzeit. Bandbreite an Grausamkeit quasi.

Wie würde die Welt reagieren, wenn Putin sich jetzt tatsächlich entscheidet eine taktische Nuklearwaffe einzusetzen?

Grundsätzlich kann man atomar antworten oder nicht atomar antworten.

Die Biden-Regierung hat, so scheint es, viel darüber nachgedacht und bis auf ein paar Eingeweihte weiß natürlich niemand was sie tatsächlich im Köcher haben.

Eine nicht atomare Reaktion wäre, wenn die Welt den Bruch des atomaren Tabus mit noch deutlich härteren Sanktionen bestraft, wobei man davon ausgehen kann, dass sich an diesen Sanktionen auch Länder, die bisher hinter bzw. neben Russland standen, beteiligen würden. China hat zum Beispiel klar gemacht, dass Atomwaffen keine Option sein dürfen. Ebenso Indien.
Russland stünde vermutlich völlig alleine da. Und, wenn man berücksichtigt, dass das Land ja jetzt schon den Hang runter rutscht – wirtschaftlich – dann wäre so eine Bestrafung fatal.

Weiters würden die USA ihre Ukraine Unterstützung wohl deutlich hochfahren. Bisher haben sie nur defensive Waffen an die Ukraine geliefert. Waffen zum Angriff haben sie vermieden um Russland nicht zu sehr herauszufordern. Nicht, dass die Ukrainer nicht reichlich danach gefragt hätten. Nein, nein, die wollen schon. Die Amis geben es ihnen aber nicht. Bisher.
Es ist im übrigen völlig unbestritten, dass Russland einen konventionellen Krieg (also ohne Atomwaffen) gegen die NATO nicht gewinnen kann. Das russische Heer ist viel zu schlecht ausgerüstet, was sich ja jetzt auch noch in einer Art und Weise zeigt, die die meisten doch fest überrascht hat.
Eine Art zu reagieren wäre daher eben, den Ukrainern Waffen zu geben, die es ihnen ermöglichen die Russen zu schlagen.

Atomar zu antworten, so der Kommentator der NYTimes, scheint nicht wirklich eine Option für die Biden-Regierung. Man kommt wohl zu dem Schluß, dass man damit eine Eskalationskaskade auslöst, die nur sehr schwer zu durchbrechen ist und an deren Ende nichts Gutes wartet.
Wobei man aber schon auch liest, dass es natürlich ausgearbeitete Antworten aller Art in den Schubladen der USA gibt ..

All das ist kein schönes Bild und man fragt sich natürlich: Warum würde Putin das machen? Warum zerstört er ein Land – womöglich auf lange Zeit – das er ja eigentlich einnehmen und für sich beanspruchen will?
Wenn er sich zu weit hinauswagt, wird es Russland viel kosten, und was nicht zu unterschätzen ist, auch ihn. Persönlich.

Warum also? Es ergibt irgendwie keinen Sinn!


Die einzige Sicht, in der das Gerede von atomarer Macht einen Sinn macht, ist das Drohen. „Ich bin willens die rote Linie zu überschreiten! Seid ihr es auch?“ Es ist eine extrem mächtige Drohung und sie hat die NATO und die USA bisher davon abgehalten selber nennenswert in den Konflikt einzugreifen. Diese Drohung würde ihre Macht in dem Moment verlieren, in dem er sie zur Realität macht. Das ist das einzige Szenarion in dem die Drohung echt Sinn ergibt.

Man sollte sich auch immer vor Augen halten, dass die Welt ja weiß wo die Russen diese Bomben aufbewahren und dass sie diese Lager per Satelit ganz genau im Auge haben. Und in all der Zeit der Drohgebärden wurde nicht ein einziger Hinweis darauf gefunden, dass Russland tatsächlich einen Angriff vorbereitet.
Würde sich Russland auf einen Angriff vorbereiten, dann würden die atomar bestückten U-Boote ihre Häfen verlassen, die Abschussrampen für Atombomben aller Art würden in Stellung gebracht werden. All das dauert. Das geht nicht in 5 Minuten. Nichts von dem ist bisher aber passiert.
Ganz im Gegenteil, als Russland vor ein paar Monaten ein paar Raketensysteme bewegt hat, haben sie vorher die USA benachrichtigt um zu verhindern, dass die Amerikaner die Bilder falsch interpretieren und ihrerseits ihre Bomben abschussbereit machen.
Noch einmal: Es gibt keine Hinweise auf Vorbereitungen solche Waffen einzusetzen.

Das heißt nicht, dass er es nicht machen wird, oder machen kann. Er tut es nur eben jetzt nicht. Sicher kann man nicht sein, speziell, wenn man bedenkt, dass die Situation irgendwann für Putin persönlich unangenehm werden kann.

Noch genauer und in englischer Sprache führt euch diese Podcastfolge der New York Times durch dieses Thema. Dauer: ca. 30 Minuten

Ich hoffe euch damit ein wenig den Blick geschärft zu haben, sodaß ihr eure Gedanken etwas besser durch diese Herausforderung führen könnt.

Habt ein wunderbares Wochenende

Persönliche Interpretation:

Das Drohen scheint also ein taktisches Knurren und Bellen in Richtung NATO zu sein. Erfreulicher Nebeneffekt für Putin dabei: Die Bevölkerung des Westens kriegt Angst und macht Druck auf die eigenen Politiker. Von denen dann einige einknicken und anfangen von „Verständnis für Russland“ und „die Sanktionen dürfen uns nicht härter treffen als Russland“ zu reden. Die zu Beginn so einige Front gegen Putin könnte so bröckeln.
Dazu kommt, dass der Großteil der Bevölkerung glaubt, dass hier von Hiroshima-ähnlichen Atomwaffen gesprochen wird, was nicht der Fall ist. Aber Putin wird sich hüten diesen Irrtum aufzulösen.
Es ist ein Krieg, der sich bereits in unseren Köpfen breit macht und wir sollten jeder für sich erkennen, dass wir längst ein Teil der Strategie geworden sind.